Von Jörg Schumann und Martina Leser
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Beim angeleiteten «Malen mit den Händen» wird ohne Pinselwerkzeug und (bei dieser Übung, wie sie unser Leiter Ergo- und Kunsttherapie, Jörg Schumann, anleitet) nur mit einer einzigen Farbe gemalt – und zwar so langsam wie möglich, um in einen Zustand zu kommen, der sich ganz bewusst im Hier und Jetzt befindet. Das wollte ich auch erfahren und habe mich in eine Therapiestunde bei Jörg Schumann gewagt.
Das «Malen mit den Händen» hat seinen Ursprung im begleiteten Malen nach Bettina Egger und kommt auf der Barmelweid bei unseren Patientinnen und Patienten der Psychosomatik zum Einsatz. Gemalt wird mit den Händen und nur mit einer Farbe – und zwar so langsam wie möglich, um in einen Zustand zu kommen, der sich ganz bewusst im Hier und Jetzt befindet. Als mir unser Leiter Ergo – und Kunsttherapie, Jörg Schumann von dieser Methode erzählt, werde ich neugierig. Nur mit einer Farbe malen? Ohne Pinsel? Und so langsam wie möglich? Das würde ich auch gerne ausprobieren, denn mein Alltag sieht zurzeit eher hektisch aus und bietet wenig Platz, um Dinge oder Gefühle wirklich bewusst wahrzunehmen.
Kurze Zeit später bin ich auf dem Weg hinüber in die Kunsttherapie. Jörg Schumann hat mich eingeladen, am «Malen mit den Händen» teilzunehmen. Knapp zwei Stunden dauert die Therapiesitzung, mit dabei sind die Patientinnen und Patienten unserer Tagesklinik. Zu Beginn werden grosse Papiere auf die Tische geklebt – 40 x 60 Zentimeter gross sind die Flächen, die wir gleich mit einer einzigen Farbe und während mindestens 30 Minuten bemalen werden.
Die Sinne reaktivieren
In einer Einführung zu Beginn der Therapiestunde erklärt uns Jörg Schumann, dass beim «Malen mit den Händen» die Hände das Werkzeug sind und dass dies eine direkte Berührung ermöglicht: Ich berühre und werde selbst berührt. Und: Dadurch, dass die Farben mit einem ätherischen, wohlriechenden Öl angereichert sind (in unsere Farben ist es Salbei), wird nicht nur der Tastsinn aktiviert, sondern auch der Geruchssinn. Ein Malerlebnis für die Sinne.
«In der frühkindlichen Entwicklung sind die Sinne, so auch der Tastsinn, enorm wichtig und sehr präsent», weiss Jörg Schumann, «doch oft rückt das Wahrnehmen der Sinne mit der Zeit in den Hintergrund – deshalb ist es sehr wichtig, in solchen Therapiestunden die Sinne wieder zu reaktivieren und den Patientinnen und Patienten zu ermöglichen, sich und ihre Sinne bewusst zu spüren». Damit dies gelingt, sei es notwendig, möglichst alle anderen Gedanken während dieser Zeit beiseitezuschieben oder loszulassen, wenn sie kommen – ähnlich, wie dies beim Meditieren der Fall sei. Dies sei wichtig, um sich der Aufgabe völlig ohne Vorstellung, wie etwas zu sein habe, hingeben zu können.
«Das Malen mit der ungeübten Hand ohne konkrete Vorstellung wird von unserem Gehirn als neue Erfahrung gewertet, was dazu führt, dass das Hirn neue neuronale Verbindungen bildet – ganz ähnlich wie bei Kindern, wenn sie Neues dazulernen. Dies ist sehr wichtig, um aus alten, festgefahrenen Mustern herauszukommen und tiefgreifende Veränderungen zu ermöglichen», so Schumann.
Nichts muss entstehen
Bevor wir starten, erklärt uns Jörg Schumann noch, dass auf dem Papier nichts entstehen muss: Keine bildgebende Gestaltung, keine Formen, keine Symbole. Schumann sagt dazu: «Dies hört sich leicht an, ist aber für viele Menschen überhaupt nicht einfach umzusetzen, denn in unserer eigenen Erwartung – und häufig auch in der Erwartung der Gesellschaft – soll doch immer etwas Bestimmtes entstehen oder müssen wir immer etwas Konkretes erschaffen».
Mit diesen Informationen im Hinterkopf, und von nun an ohne miteinander zu sprechen, legen wir los. Jeder wählt sich ganz intuitiv eine Farbe aus, die sie oder ihn besonders anspricht, mit der sie oder er sich besonders wohlfühlt oder die ihr / ihm einfach guttut. Dabei dürfen auch Farben zusammengemischt werden, bis der persönliche, «richtige» Farbton entstanden ist.
Ich mag warme Farben und mische mir ein nicht zu grelles, aber doch recht kräftiges Rot. Dann tauche ich zwei Finger der ungeübten Hand in die Farbe und setze an. «Oh nein, doch zu grell!», denke ich bei den ersten paar Strichen, aber neu mische ich jetzt nicht mehr. Und ja, denken sollte ich ja auch nicht, also schnell den ersten Gedanken wegschieben und mich auf das fokussieren, was ich in diesem Moment sehe, spüre und rieche.
Das funktioniert aber jeweils nur während kurzen Sequenzen, wie ich schnell bemerke. Oft ertappe ich mich doch wieder beim Denken und Werten und bin gefühlt ständig am «Gedanken wegschieben». Zum Glück erklärt Jörg Schumann, dass dies ganz normal ist, also dass wir quasi immer denken und dass Meditieren viel Übung braucht. Ich merke langsam, wie sich alles in meinem Körper herunterfährt. Meine Atmung ist ruhig, ich schaue, was meine Finger – mittlerweile auch die von der linken Hand – machen, wie sich die Farbe anfühlt und wonach sie riecht. Interessanterweise empfinde ich den Geruch mal als angenehm, dann wieder eher als störend. Was ich bewusst wahrnehme, aber nicht werte.
Während 20 Minuten male ich so, langsam und bedacht, knapp die Hälfte meiner Malfläche ist gefüllt. Als Jörg Schumann dann mit ruhiger Stimme sagt, dass noch zehn Minuten Zeit zum Malen bleiben, werde ich leicht panisch, da ich merke, dass mein Bild nicht vollständig sein wird. Unvollständig sein – etwas, dass es in meinem Alltag praktisch nicht gibt: Ich kann zum Beispiel ja keine halben Texte abliefern bei der Arbeit und meine Kinder geben sich mit einem halben Mittagessen auch nicht zufrieden… intuitiv male ich deshalb schneller und muss mich dann direkt wieder bremsen. Und mir klar machen, dass unfertig auch okay ist. Gar nicht so einfach, wie ich merke.
«Endlich durfte ich einmal langsam sein»
Nach der halben Stunde Malzeit, in der es wirklich absolut still gewesen war, hängen wir alle Bilder auf. Die einen sind komplett mit Farbe gefüllt, die anderen nicht. In einer kurzen Austauschrunde dürfen alle Teilnehmenden, die das möchten, von ihren persönlichen Erfahrungen berichten. Es gibt verschiedene Rückmeldungen, wobei mich die Aussage einer jungen Frau besonders berührt. Sie sagt: «Für mich war die Erfahrung sehr befreiend. Endlich durfte ich einmal so langsam sein, wie ich wollte. Normalerweise höre ich nur immer, ich solle schneller machen oder mich beeilen».
Bei mir persönlich wäre eine Entschleunigung dagegen wohl hilfreich: In meinem Alltag läuft vieles hektisch und in kurzer Zeit erledige ich jeweils eine Vielzahl an Aufgaben, die ich tun «muss». Für mich persönlich nehme ich deshalb aus dieser Therapiestunde mit, mein «Müssen» in Zukunft etwas zu reduzieren und öfter mal herunterzufahren. Und: Zu wissen, dass es auch okay ist, wenn eine Sache mal unvollendet bleibt.
Danke für den guten Gedankenanstoss: Es darf auch mal unvollendet bleiben…