Der innere Fuchs: Wie Anorexie die Waage beherrscht

Von Clarissa Spielmann
Lesedauer: 5 Minuten

Patientinnen und Patienten mit Anorexia nervosa (übersetzt: «selbst herbeigeführter Gewichtsverlust») werden vom «inneren Fuchs» begleitet, einer Stimme, die Ängste schürt und die Waage zum Feind macht. Der Blogbeitrag von Clarissa Spielmann beleuchtet das Tabuthema «Mangelernährung» und zeigt Wege zur Unterstützung auf.

Anorexia nervosa ist nicht nur einfach ein «Essproblem», sondern eine komplexe psychische Störung. Sie zeichnet sich durch eine strenge Essensrestriktion, ein stark verzerrtes Körperbild sowie einer grossen Angst vor Gewichtszunahme aus. Die Betroffenen machen ihr Selbstwertgefühl von ihrem Körpergewicht abhängig. Zudem beschreiben viele Patientinnen und Patienten, dass sie eine innere kritische Stimme haben, welche ihnen ein Gefühl von Machtlosigkeit übermittelt und sie somit zu diesen Verhaltensweisen antreibt (vgl. Cardi et al., 2022).

Der innere Fuchs: Die anorektische Stimme
Die oben erwähnte kritische Stimme, auch bekannt als «anorektische Stimme», wird häufig als eine eigenständige innere Kritikerin wahrgenommen, welche ständig Kommentare über das Essen, das Körpergewicht und den Selbstwert abgibt.

Diese Stimme wird von 94 bis 96 Prozent der Patientinnen und Patienten als allgegenwärtige und mächtige Stimme beschrieben. Sie wird als destruktiv (zerstörerisch) wahrgenommen, gleichzeitig vermittelt sie ihnen aber auch ein Gefühl von Kontrolle und Struktur. Diese Ambivalenz erschwert den Heilungsprozess (vgl. Cardi et al., 2022).

Betroffene nehmen die anorektische Stimme auch als eine Art Begleiter wahr, welchen sie trotz seiner destruktiven Natur oft nicht loslassen können. Solche Stimmen sind nicht nur negativ, sondern können auch ein Gefühl von Sicherheit vermitteln (vgl. Graham et al., 2019).

Briefwechsel mit der Anorexie
Eine interessante Methode ist, eine Essstörung in Form eines Briefes zu beschreiben, einen «Briefwechsel mit der Anorexie» zu führen (Tokarska et al., 2020). Die Betroffenen schreiben Briefe an ihre Krankheit, um ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken. Das hilft ihnen, die anorektische Stimme als etwas Äusseres zu sehen, mit ihr in einen Dialog zu treten und so nach und nach die Kontrolle zurückzugewinnen (vgl. Tokarska et al., 2020).

Die Angst vor der Waage
Die Angst vor der Waage ist ein zentrales Merkmal der Anorexia nervosa. Viele Betroffene beschreiben, wie diese Angst ihren Alltag bestimmt. Die Waage wird zum Symbol der Kontrolle und der Selbstbewertung, auch wird sie zur Quelle grosser Verunsicherung und Scham. Jede kleine Veränderung des Gewichts kann starke emotionale Reaktionen wie Angst, Schuld oder sogar Panik auslösen. Diese Angst ist eng mit Körperbildstörungen und einem übermässigen Fokus auf bestimmte Körperbereiche verbunden (Porras-Garcia et al. (2020)).

Hilfe gibt es mittels einer neuen Technik der Virtuellen Realität (VR): Mit eine VR-Brille können Betroffene in einem sicheren und geschützten Raum üben, wie sie auf eine mögliche Gewichtszunahme reagieren (Porras-Garcia et al. (2020)). Dabei wird eine virtuelle Umgebung geschaffen, in der sie zum Beispiel eine Waage nutzen oder sich mit ihrem Körperbild auseinandersetzen können, ohne dabei echten sozialen Druck zu spüren. Diese Methode hilft, ihre intensiven emotionalen Reaktionen wie Angst und Panik Schritt für Schritt abzubauen.

Auch mit externen Techniken wie der AVATAR-Therapie können Patientinnen und Patienten lernen, ihre Angst vor der Waage zu bewältigen (Cardi et al. (2022)). Bei dieser Methode wird die anorektische Stimme in Form eines virtuellen Avatars visualisiert. Die Patientinnen und Patienten können mit diesem Avatar interagieren und so ihre kritischen inneren Gedanken äussern und hinterfragen. So lernen sie mit der Zeit, ihre innere Kritikerin besser zu verstehen und ihre Macht über ihre Gefühle und Handlungen zu verringern.

Die AVATAR-Therapie bietet einen sicheren Raum, in dem Betroffene neue Bewältigungsstrategien entwickeln und ihr Selbstwertgefühl stärken können. Langfristig können so die negativen Effekte der anorektischen Stimme abgeschwächt und die Angst vor der Waage reduziert werden.

Fakten zu Anorexie nervosa
Prävalenz: Etwa 1 bis 2 Prozent der Frauen und 0.3 Prozent der Männer erkranken weltweit an Anorexie nervosa (vgl. Treasure et al., 2020).
Altersgruppe: Die Erkrankung tritt meist im Jugend- und jungen Erwachsenenalter auf, mit einem Beginn häufig zwischen 15 und 19 Jahren.
Sterblichkeitsrate: Anorexie nervosa hat die höchste Sterblichkeitsrate aller psychischen Erkrankungen, mit einer Rate von 5 bis 10 Prozent (vgl. Arcelus et al., 2011).

Körperbildstörung: Verzerrte Wahrnehmung
Viele Betroffene erleben ihren Körperumfang deutlich grösser, als er tatsächlich ist (Graham et al. (2019). Dieses verzerrte Bild wird durch die innere Stimme verstärkt, welche sie antreibt, weiter abzunehmen, selbst wenn dies gesundheitlich gefährlich ist. Interventionen wie die Spiegel- oder VR-Exposition können helfen, diese Wahrnehmungen herauszufordern und schrittweise zu korrigieren (vgl. Porras-Garcia et al., 2020).

Auch gezielte stationäre Behandlungen können das Essverhalten und die Körperwahrnehmung der Patientinnen und Patienten positiv beeinflussen. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung individueller Therapieansätze (vgl. Sjögren et al., 2021).

Negative Gedanken bei Gewichtszunahme
Die Gewichtszunahme während der Behandlung ist für viele Betroffene eine der schwierigsten Phasen. Sie wird oft von intensiven negativen Gedanken begleitet, wie der Angst, die Kontrolle zu verlieren, oder dem Gefühl, wertlos zu sein. Diese Gedanken werden durch die anorektische Stimme verstärkt. Studien betonen, dass eine gezielte Konfrontation mit diesen Gedanken, beispielsweise mit Hilfe der AVATAR-Therapie, den Patientinnen und Patienten helfen kann, die Macht dieser Stimme zu verringern und das Selbstwertgefühl zu stärken (Cardi et al., 2022).

Fazit:

  • Ein empathisches und verständnisvolles Umfeld, ist für die Betroffenen sehr wichtig. So können die inneren Konflikte besser verstanden werden. Dadurch können die Angehörigen besser unterstützen werden.
  • Neue therapeutische Ansätze wie z.B.  Spiegeltherapie, VR-gestützte Körperexposition oder AVATAR-Therapie bieten innovative Wege zur Behandlung.
  • Mehr Wissen über Anorexia nervosa in der Gesellschaft kann helfen, Vorurteile abzubauen und Betroffenen den Zugang zu Hilfe zu erleichtern.


Diskutieren Sie mit!

  • Haben Sie Erfahrungen mit der „anorektischen Stimme“ gemacht? Wie haben Sie oder Ihr Umfeld darauf reagiert?
  • Welche innovativen Therapiemethoden könnten Ihrer Meinung nach Anorexia nervosa wirksam behandeln?
  • Wie können wir gesellschaftliche Normen über Körperbilder hinterfragen und verändern?

Über die Autorin

Clarissa Spielmann ist Pflegefachfrau HF Klinik Barmelweid und Studierende Bachelor of Science FH in Nursing an der Careum Hochschule Gesundheit. Der Blogbeitrag ist im Rahmen des Moduls «Kreatives Schreiben» entstanden.


Literaturverzeichnis:

Zorii A. (2022, Mai 20). Foto Anorexia nervosa White Scale And Depression Upset And Sad Woman With Measuring Tape On Wooden Floor Stock Photo – Download Image Now – iStock

Cardi, V., Ward, T., Aya, V., Calissano, C., Thompson, A., & Treasure, J. (2022). A proof-of-concept study for the use of a computerised avatar to embody the eating disorder voice in anorexia nervosa. Eating and Weight Disorders – Studies on Anorexia, Bulimia and Obesity, 27(3499–3506). A proof-of-concept study for the use of a computerised avatar to embody the eating disorder voice in anorexia nervosa | Eating and Weight Disorders – Studies on Anorexia, Bulimia and Obesity

Tokarska, U. & Ryżanowska, D. (2020). Letters to anorexia: Narrative tools for working with anorectic patients in a Dialogical Self context. Clinical Psychology and Psychotherapy, 27(6), 946–958. Letters to anorexia. Narrative tools for working with anorectic patientsin a Dialogical Self context

Graham, M. R., Tierney, S., Chisholm, A., & Fox, J. R. E. (2019). Perceptions of the anorexic voice: A qualitative study of health care professionals and people with anorexia nervosa. Clinical Psychology and Psychotherapy, 26(5), 511–522. Perceptions of the “anorexic voice”: A qualitative study of health care professionals – Graham – 2019 – Clinical Psychology & Psychotherapy – Wiley Online Library

Porras-Garcia, B., Ferrer-Garcia, M., Serrano-Troncoso, E., Carulla-Roig, M., Soto-Usera, P., Miquel-Nabau, H., & Gutiérrez-Maldonado, J. (2020). Validity of virtual reality body exposure to elicit fear of gaining weight, body anxiety and body-related attentional bias in patients with anorexia nervosa. Journal of Clinical Medicine, 9(10), 3210. Validity of Virtual Reality Body Exposure to Elicit Fear of Gaining Weight, Body Anxiety and Body-Related Attentional Bias in Patients with Anorexia Nervosa

Sjögren, M., Kizilkaya, I., & Støving, R. K. (2021). Inpatient weight restoration treatment is associated with decrease in post-meal anxiety. Journal of Personalized Medicine, 11(10), 1079. Inpatient Weight Restoration Treatment Is Associated with Decrease in Post-Meal Anxiety

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