Die Macht des bescheidenen Nachfragens in der medizinischen Behandlung von Delirium: Schlüssel zu verbesserter Kommunikation und Kooperation

Von PD Dr. med. Mathias Schlögl und Martina Leser
Lesedauer: 6 Minuten

Ältere Menschen, die sich in einem Delir befinden, erleben oft hohen emotionalen Stress: Sie spüren, dass sie nur Teile eines Gesprächs – zum Beispiel mit der Ärztin oder dem Pflegepersonal – aufnehmen, sind aber aufgrund des Delirs nicht in der Lage, dies zu ändern. Die Wissenschaft prüft nun, ob es mit einer an die Bedürfnisse von Delir-Patientinnen und -Patienten angepassten Sprache möglich ist, diesen Stress zu vermindern.

Dass ältere Menschen unter einem Delir leiden, kommt gar nicht so selten vor. Auslöser können Operationen oder starke Schmerzen sein, aber auch Infektionen, Fieber, Flüssigkeitsmangel, Blutzuckerschwankungen, Medikamente oder eine bestehende Demenz. Auch Angst oder Stress – oft sogar nur eine räumliche Veränderung – können Betagte in ein Delir versetzen: «Viele der Betroffenen beschreiben das Delir als einen ganz speziellen, einzigartigen Zustand, als eine Art Sumpf, aus dem sie herausgezogen werden möchten», erklärt PD Dr. med. Mathias Schlögl, Chefarzt Geriatrie und Stv. Leiter Departement Innere Medizin der Barmelweid.

Ein Delir bedeutet nicht, dass Betroffene gar nicht mehr kommunizieren können oder keine Informationen mehr aufnehmen. Ihre Aufnahmefähigkeit ist jedoch eingeschränkt – sie nehmen Teile eines Gesprächs wahr, aber nicht alle. Oft bemerken sie dies während den Gesprächen unterbewusst, was sie in hohen emotionalen Stress (=Distress) versetzt. Belastend ist diese Situation aber nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für ihre Familien. Mathias Schlögl weiss: «Die emotionale Belastung der Familien ist hoch. Hier sind wir in der Pflicht, mit einer einfühlsamen und personalisierten Pflege und einer geeigneten Kommunikationsweise dafür zu sorgen, dass Stress abgebaut wird.»

Ein Delir bedeutet nicht, dass Betroffene gar nicht mehr kommunizieren können oder keine Informationen mehr aufnehmen – ihre Aufnahmefähigkeit ist jedoch eingeschränkt.

Bedürfnisgerechte Kommunikation mit «Humble Inquiry»
Doch wie kommuniziert man mit Delir-Betroffenen am besten? «Eine Möglichkeit ist Humble Inquiry», sagt Mathias Schlögl. Humble Inquiry ist eine Methode des vorurteilslosen Fragens mit der es für Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegende möglich ist, ein besseres Verständnis für das besondere Erleben von Delir-Betroffenen zu entwickeln und dies wiederum ermöglicht massgeschneiderte Interventionen und fördert bei den Familien das Vertrauen in die Zusammenarbeit.

Die Übersetzung dieses Konzepts ins Deutsche bietet verschiedene Möglichkeiten, die alle spezifischen Nuancen des Ausdrucks betonen:
Bescheidenes Nachfragen unterstreicht die Zurückhaltung und die Anerkennung der Expertise des Gegenübers.
Demütiges Erkunden hebt die Haltung der Ehrfurcht und tiefen Achtung vor der Lebenserfahrung der Patienten hervor.
Respektvolle Neugier fokussiert auf das Interesse am anderen, frei von Vorurteilen.
Einfühlsames Fragen betont das empathische Eingehen auf die emotionale Verfassung des Patienten.
Offenes Erfragen verdeutlicht eine unvoreingenommene und offene Herangehensweise.
Unterstützendes Nachfragen zeigt, wie durch Fragen aktive Unterstützung und Förderung erfolgen kann.

«In der Betreuung von Delir-Betroffenen ist ein häufiger Fehler, dass wir nicht mit den Betroffenen, sondern über die Betroffenen sprechen, was diese stigmatisiert und in emotionalen Stress versetzen kann. Wenn wir unsere Kommunikation anpassen, dann kann unsere Sprache wertschätzend sein, das heisst, die Betroffenen spüren, dass sie uns wichtig sind. So können sie Vertrauen aufbauen und sind sie besser in der Lage, uns Einblicke in ihre kognitiven, emotionalen und sozialen Bedürfnisse zu gewähren», erklärt Mathias Schlögl. Dies bedeute auch, dass man als Fachperson vom reinen Daten sammeln weg komme und sich stattdessen auf eine vertiefte Interaktion mit den Betroffenen fokussiere, so der erfahrene Geriater.

«What’s the matter» vs. «What matters to you?»
Humble Inquiry kann man gezielt trainieren – Mathias Schlögl kann dazu konkrete Tipps für Ärzteschaft, Pflegende und Familienangehörige geben: «Als erstes ist es wichtig zu verstehen, dass die Grundfrage ‹What’s the matter› – also ‹Was ist los? › – durch ‹What matters to you?› – ‹Was ist Ihnen wichtig? – ersetzt werden muss im Umgang mit Delir-Betroffenen.» Damit wird ein direktiver Kommunikationsansatz umgewandelt in einen, bei dem offene Fragestellungen im Vordergrund stehen. Untenstehend ein Beispiel dazu:

Die folgende Tabelle gibt weitere Tipps, wie Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und Angehörige optimal – im Sinne von Humble Inquiry – in verschiedenen Situationen agieren können (hier zu einer vergrösserten Ansicht klicken).

Einbezug der Familie ist wichtig
Doch weshalb ist es wichtig, dass nicht nur das medizinische Fachpersonal, sondern auch Familienmitglieder in die Pflege von Delir-Betroffenen einbezogen werden – und im besten Fall Humble Inquiry anwenden? «Dass die Familien in die Pflege miteinbezogen werden, ist sehr wichtig, denn oft können sie den medizinischen Fachpersonen wertvolle Informationen geben – beispielsweise über den psychischen Ausgangszustand, die Vorlieben einer Patientin oder eines Patienten oder über die medizinische Vorgeschichte der betroffenen Person», erklärt Mathias Schlögl.

Die Rundumbetreuung im Sinne einer vorurteilslosen Fragestellung ist auch wichtig für die psychische Gesundheit der Patientinnen und Patienten: «Oft bleibt der mit dem Delirium verbundene Leidensdruck nicht nur auf den Zeitraum der Deliriums-Episode beschränkt, sondern kann über Monate oder sogar Jahre anhalten und ist mit einer dauerhaften psychischen Erkrankung verbunden», erklärt Mathias Schlögl. Psychische Leiden im Zusammenhang mit einem Delir liessen sich durch Humble Inquiry deutlich verringern.

Positive Effekte für das gesamte Gesundheitsteam und -system
Humble Inquiry wirkt sich aber nicht nur auf die betroffene Patientin oder den betroffenen Patienten und die Familienangehörigen positiv aus, sondern auf das gesamte Team, das sich um die betroffene Person kümmert. Mathias Schlögl weiss: «Durch die Förderung einer Kultur der Neugier und der Aufgeschlossenheit können Fachpersonen die Entwicklung innovativer Lösungen für die Herausforderungen des Alterns unterstützen und ein integrativeres und gerechteres Gesundheitssystem fördern. Auf diese Weise kann Humble Inquiry als eine Art Katalysator für Veränderungen dienen und neue Wege des Denkens über und des Umgangs mit den komplexen Bedürfnissen älterer Erwachsener anregen.»

PD Dr. med. Mathias Schlögl ist ein Experte in Humble Inquiry und forscht in diesem Bereich weiter.

Herausforderungen bei der Umsetzung
So vielversprechend der Humble-Inquiry-Ansatz ist, so schwierig ist die Umsetzung vielerorts durch gegebene Rahmenbedingungen. «Es ist klar, dass es in der klinischen Praxis noch viele Hürden gibt, die es zu überwinden gilt – beispielsweise Zeitmangel, eine hohe Arbeitsbelastung und der Druck, sich an etablierte Protokolle zu halten», erklärt Mathias Schlögl. Hier seien die Organisationen des Gesundheitswesens, Berufsverbände und politischen Entscheidungsträger gefordert, so Schlögl. Sie müssten sich dafür einsetzen, ein unterstützendes Umfeld zu schaffen, das die patientenzentrierte Pflege in den Vordergrund stellt und die durch Humble Inquiry gewonnenen Erkenntnisse schätzt.

Schier unbegrenzte Möglichkeiten in der Anwendung
«Wenn man Humble Inquiry verstanden und verinnerlicht hat, dann sind die Einsatzmöglichkeiten fast unbegrenzt – nicht nur bei Menschen im Delir», ist Mathias Schlögl überzeugt, «mit Humble Inquiry ist es möglich, generell ein Gesundheitssystem zu schaffen, das nicht nur effizienter, sondern auch mitfühlender und patientenzentrierter ist – denn der Ansatz stellt im Kern die menschliche Beziehung in den Vordergrund.»

Mehr zu Mathias Schlögls neuesten Forschungsergebnissen finden Sie im kürzlich im «Delirium Communications Journal» veröffentlichten Artikel The Power of Humble Inquiry in Delirium Care: Enhancing Communication and Collaboration for Improved Patient Outcomes: https://deliriumcommunicationsjournal.com/article/89969-the-power-of-humble-inquiry-in-delirium-care-enhancing-communication-and-collaboration-for-improved-patient-outcomes

Mathias Schlögl hat dieses Jahr an der American Delirium Society Conference (vom 9. –11. Juni 2024 in Sacramento) mit Fachpersonen das Prinzip des Humble Inquiry im Rahmen eines Workshops vertieft. Mehr zur Konferenz: https://americandeliriumsociety.org/events/ads-conference-2024/

Buch-Tipp: Edgar H. Schein: Humble Inquiry. Vorurteilsloses Fragen als Methode effektiver Kommunikation.

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