«Die Unwissenheit über Long Covid ist sehr schwierig auszuhalten»

Von Martina Leser
Lesedauer: 6 Minuten

Die Angst vor «Long Covid» – also vor den verschiedenen möglichen Krankheitsbildern nach der eigentlichen Corona-Infektion – ist bei vielen Menschen mittlerweile fast grösser als die Angst vor Covid-19 selbst. Bereits seit längerer Zeit kursieren in den Medien Bilder und Berichte von – teils noch sehr jungen – Patientinnen und Patienten, die auch Wochen nach ihrer Corona-Infektion unter Symptomen leiden, die sie so stark beeinträchtigen, dass ein normaler (Arbeits-) Alltag nicht möglich ist. Die einen sind unendlich müde und schlapp, die anderen leiden unter Kurzatmigkeit oder Atemnot, und wieder andere haben im Zusammenhang mit ihrer Corona-Infektion ein Trauma erlitten, das ein normales Leben verunmöglicht.

Erste Untersuchungen aus England und Italien kommen zum Schluss, dass zwischen 50% und 70% aller Corona-Erkrankten auch Wochen später noch an mindestens einem Symptom leiden, welches ihre Lebensqualität einschränkt. Am häufigsten genannt werden dabei Fatigue (bleierne Müdigkeit), Atemnot, Husten oder depressive Zustände. Diese Zahlen lassen aufhorchen und machen deutlich, dass wir uns auch nach dem Überstehen der eigentlichen Pandemie wohl noch für eine sehr lange Zeit mit den Folgen von Covid-19 auseinandersetzen werden müssen. Für wie lange, das ist bis zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht abzusehen.

Obwohl wir also mittlerweile darüber Bescheid wissen, mit welchen Symptomen ehemalige Corona-Erkrankte kämpfen, tappen wir nach wie vor im Dunkeln darüber, was genau «Long Covid» ist, wie lange es andauert, welche Symptome die Zeit tatsächlich irgendwann heilt und welche Schäden irreparabel sind. «Diese Unwissenheit über Long Covid, das ist sehr schwierig auszuhalten», erklärt unser Chefarzt Pneumologie, Dr. med. Thomas Sigrist.  Mit ihm versuchen wir hier trotzdem dem Begriff «Long Covid» etwas näher auf die Spur zu kommen und aufzuzeigen, was der aktuelle Stand der Wissenschaft ist:

Thomas Sigrist, Sie sagen, dass «Long Covid» zum heutigen Zeitpunkt noch nicht genau definiert werden kann. Wie meinen Sie das?

Das, was wir bis jetzt von der Wissenschaft, von der Medizin und aus den Medien hören, das sind noch keine wissenschaftlich belegten Erkenntnisse, sondern – wenn wir es ganz genau nehmen – lediglich Meinungen.

Nur Meinungen?

Genau genommen ja. Ich versuche kurz zu erklären, weshalb: Normalerweise erstellen wir in der Wissenschaft, wenn wir eine neuartige Begebenheit untersuchen, eine Hypothese, die wir schlussendlich entweder belegen oder widerlegen. Haben wir die Hypothese erstellt, folgt meist eine Vielzahl an Studien, die eruieren, ob die These sich erhärtet oder nicht. Wenn sich tatsächlich eine Hypothese zu erhärten scheint, dann wird sie oft mehrfach überprüft, bevor man zu einer endgültigen Definition gelangt. Sie erahnen es bestimmt: Diese Prozesse dauern in der Regel viele Monate und Jahre. Zeit, die seit Beginn der Pandemie noch gar nicht verstrichen ist – und Studien, die damit noch gar nicht durchgeführt worden sind.

Diese Unsicherheit über das fehlende Wissen zu einem sehr dringlichen Problem, das ist zum aktuellen Stand sehr schwierig auszuhalten. Aber wir haben gar keine andere Wahl – wir müssen sie aushalten – und: wir müssen unter diesen Umständen nach bestem Gewissen handeln, da das fundierte Wissen fehlt.

Gemäss Dr. med. Thomas Sigrist sind alle Informationen, die wir zum jetzigen Zeitpunkt über Long Covid haben, lediglich Meinungen.

Das klingt nach einer schwierigen Situation. Ab wann spricht man, nach jetzigem Wissensstand, von einer Long Covid-Erkrankung?

Wir sprechen bei einer Person von einer Long Covid-Erkrankung, wenn sie oder er auch 12 Wochen nach beendeter Corona-Infektion noch unter Symptomen leidet, die eindeutig mit der Infektion zusammenhängen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir fünf verschiedene Long Covid-Gruppen skizzieren:

In der ersten Gruppe befinden sich Personen, die – meist nach einem schweren Verlauf – an anhaltender Leistungsminderung, an Atemnot mit unterschiedlichem Ausmass oder an Husten leiden. Bei diesen Personen ist es oft schwierig zu eruieren, ob die Symptome noch auf die Corona-Infektion selbst zurückzuführen sind oder ob es sich um eine Long-Covid-Folge, beispielsweise in Form eines Asthma bronchiale, oder eine andere Ursache handelt. Die Abgrenzung ist schwierig.

In der zweiten Gruppe sind Personen, die mit psychischen Problemen kämpfen nach ihrer Corona-Infektion. Dabei ist das ganze Spektrum zu finden: Menschen mit Traumafolgestörungen, mit Depressionen, mit Angstzuständen, mit Schlafproblemen oder mit chronischen Schmerzen.

In der dritten  Gruppe befinden sich  Personen, die unter einer bleiernen Müdigkeit (Fatigue) oder unter Gedächtnisproblemen leiden, wie wir sie auch von anderen Krankheitsbildern her kennen – zum Beispiel Fatigue nach einem Epstein-Barr-Syndrom, das wir auch als Pfeiffersches Drüsenfieber oder als die «Kusskrankheit» kennen.

In der vierten  Gruppe befinden sich diejenigen Personen, die während ihrer Corona-Infektion Organschäden erlitten haben, die unter Umständen nicht mehr geheilt werden können. Das können zum Beispiel Personen sein, die durch Covid-19 einen Nierenschaden erlitten haben und jetzt auf die Dialyse angewiesen sind.

In der fünften  Gruppe finden sich diejenigen Personen, die mit entzündlichen Veränderungen, meist autoimmuner Natur, kämpfen.

Viele Long Covid-Patientinnen und Patienten leiden auch Monate nach ihrer Corona-Erkrankung noch an gesundheitlichen Problemen.

Das Spektrum von Long Covid scheint wirklich riesig zu sein. Wie diagnostizieren und behandeln wir hier auf der Barmelweid, mit bestem Gewissen, «Long Covid»?

Obwohl wissenschaftlich belegtes Wissen zurzeit noch fehlt, haben auch wir uns auf der Barmelweid auf die Behandlung von Long Covid-Patientinnen und Patienten eingestellt. Unser Behandlungsangebot ist erst vor kurzem auf die speziellen Bedürfnisse von Long Covid-Betroffenen ausgeweitet worden. In der Diagnose und Behandlung gehen wir dabei standardisiert vor: Wir eruieren das Hauptsymptom – meist ist dies ein pneumologisches Problem, ein psychosomatisches Problem oder ein Schlafproblem – und weiten die Untersuchungen allenfalls aus auf unsere weiteren Disziplinen: Die Kardiologie, die Geriatrie und die Innere Medizin. Das heisst, von Beginn an verfolgen wir einen ganzheitlichen Ansatz, um die Patientinnen und Patienten vollumfänglich begleiten zu können. Dabei ist uns wichtig, dass wir mit unseren Patientinnen und Patienten gemeinsam den Weg hin bis zur Heilung gehen, sie positiv unterstützen und ihnen zeigen, dass wir sie ernst nehmen und sie nicht allein mit ihrem Problem sind. Und wir dürfen durchaus positiv eingestellt sein: Meist sind zwischen zwei ambulanten Konsultationen (dazwischen liegen in der Regel einige Wochen) deutliche Verbesserungen zu erkennen. Und diese wiederum helfen den Patientinnen und Patienten, optimistisch in die Zukunft zu blicken – bei einer Krankheit, bei der wir nicht wissen, wie lange sie tatsächlich im einzelnen Fall andauert.

Informationen für Betroffene:
Leiden Sie unter Long-Covid-Symptomen? Hier geht es zu unserem Behandlungsangebot.

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