Von Martina Leser
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In der Bevölkerung ist eine zunehmende Verharmlosung des Coronavirus zu beobachten, die Achtsamkeit und das Einhalten der Hygienemassnahmen lassen nach, vielen ist das Tragen der Maske lästig. Seit kurzer Zeit nimmt die Zahl an Neuerkrankungen deshalb markant zu. Unser Chefarzt Pneumologie, Dr. med. Thomas Sigrist, erklärt im Interview, weshalb wir nicht nachlässig werden sollten.
Thomas Sigrist, die Corona-Neuinfektionen nehmen zu, die Spitäler sind aber noch recht leer. Ist das Virus harmloser geworden?
Ganz klar nein. Obwohl die Anzahl Verstorbener nicht im gleichen Ausmass zunimmt wie die markant steigende Anzahl bestätigter Fälle, darf man eine Covid-19-Erkrankung auf keinen Fall verharmlosen. Dass zurzeit weniger Menschen im Spital behandelt werden als im Frühling, liegt vor allem daran, dass sich aktuell vor allem jüngere Personen infizieren. Die aktuelle Entwicklung lässt aber vermuten, dass sich dies in diesem Moment ändern könnte und zunehmend wieder ältere Patienten infiziert werden. Aber auch die jüngeren Patienten können einen schweren Verlauf erleiden. Nach einem schweren Verlauf kann es mehrere Monate dauern, bis die betroffenen Organe der Überlebenden wieder voll funktionsfähig sind. Auch sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht alle Langzeitfolgen von Covid-19 bekannt. Leider stützt sich die aktuelle Berichterstattung in den Medien oft nicht auf evidenzbasierte Fakten und lässt viele Menschen damit im Irrglauben, SARS-CoV-2 sei eine harmlose Erkrankung. Wer jemanden mit einem schweren Verlauf kennt, der nimmt die Infektion nicht mehr auf die leichte Schulter.
Welche Fakten stimmen denn zu SARS-CoV-2 und Covid-19?
Wir wissen mittlerweile sehr gut Bescheid über die Viruseigenschaften (Struktur und Bindung an die ACE2-Rezeptoren) und die Übertragungswege, über auftretende Symptome, über die Inkubationszeit (5–6 Tage) sowie über die Infektiosität (2 Tage vor bis 8 Tage nach Symptombeginn ist man ansteckend). Auch über mögliche pathophysiologische Vorgänge – wie beispielsweise Veränderungen an bestimmten Zellen, überschiessende Immunreaktionen oder eine erhöhte Gerinnbarkeit des Blutes – sind unterdessen bestens bekannt. Wir wissen, dass es in 81% der Fälle bei einem milden Verlauf bleibt, bei 14% die Erkrankung schwer verläuft und es bei 5% zu einem lebensgefährlichen Zustand kommt.
Von der schweizerischen Task Force (National COVID-19 Science Task Force NCS-TF) wissen wir, dass Männer ein 25% höheres Risiko haben, hospitalisiert werden zu müssen und ein 60% höheres Risiko für einen Aufenthalt auf der Intensivpflegestation haben – und dass jeder Zweite auf der Intensivstation beatmet werden muss. Das Risiko steigt mit zunehmendem Alter und bei Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Probleme, Diabetes, Übergewicht oder chronische Atemwegserkrankungen. Auch Raucherinnen und Raucher haben ein erhöhtes Risiko.
Und wobei tappen wir noch im Dunkeln?
Leider sind viele Punkte noch nicht klar: Nach wie vor gibt es beispielsweise noch keine hochwirksame Therapie in der medikamentösen Behandlung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten und es ist schwierig, sogenannte prognostische Biomarker auszumachen. Biomarker sind messbare Parameter biologischer Prozesse, die es vereinfachen, Prognosen über den möglichen Verlauf der Erkrankung bei einer Person zu erstellen. Zudem wissen wir noch wenig über die Immunität von Personen, welche die Erkrankung durchgemacht haben. Sind sie nur wenige Monate immun oder über eine längere Zeit? Diese Information ist sehr wichtig bei der Herstellung eines passenden Impfstoffs und der Festlegung weiterer Massnahmen.
Zum jetzigen Zeitpunkt sind auch noch nicht alle Langzeitfolgen von Covid-19 bekannt. Die ersten Nachkontrollen 3 Monate nach der Erkrankung weisen darauf hin, dass die vollständige Wiederherstellung sämtlicher Organfunktionen nach einem schweren Verlauf ungefähr 3–6 Monate – in vielen Fällen wohl aber bis zu 12 Monate – dauern wird. Deshalb gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel an der Gefahr der Krankheit – weder an der Gefahr für das Individuum noch an der Gefahr für die Gesellschaft.
Was sind die Gründe für die zunehmende Verharmlosung in der Bevölkerung?
Viele Bewohnerinnen und Bewohner in der Schweiz dürften bisher keinen oder kaum Kontakt zu schwer oder kritisch erkrankten Covid-19-Patienten gehabt haben. Sie haben «nur» die Einschränkungen des Lockdowns erlebt und haben womöglich finanzielle Folgen zu spüren bekommen. Verständlicherweise kann dies zu Wut und zu einer falschen Einschätzung führen, was die Gefährlichkeit des Virus angeht. Eine schwierige Situation für uns alle.
Das klingt beunruhigend. Was ist Ihr Appell an die Bevölkerung?
Nehmt die Infektion mit dem neuen Coronavirus ernst. Wenn ihr euch durch das Einhalten der Abstandsregeln, dem Anwenden der Händehygiene und wenn notwendig mit einer zertifizierten Maske schützt, könnt ihr für euch selbst – aber vor allem auch für eure Mitmenschen und die Gesellschaft – einen wertvollen Beitrag leisten. Nur gemeinsam ist es möglich, die Pandemie in den Griff zu bekommen.