Selbstfürsorge: Lernen, sich um sich selbst zu kümmern

Von Jasmin Scholz, Alina Siegfried und Martina Leser
Lesedauer: 6 Minuten

Gut für sich zu sorgen – also selbstfürsorglich zu sein – bringt positive Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden mit sich. Doch oft fällt es uns schwer, sich selbst etwas Gutes zu tun. Weshalb das so ist und wie man sich im Alltag gezielt um sich selbst kümmern kann, erfahren Sie im Interview mit Alina Siegfried und Jasmin Scholz, die auf unseren psychosomatischen Abteilungen B1 und B2 als Pflegefachfrauen tätig sind.

Liebe Alina, liebe Jasmin, vielen Dank, dass ihr euch Zeit genommen habt, mit mir über das Thema «Selbstfürsorge» zu sprechen. Was ist mit dem Begriff Selbstfürsorge eigentlich genau gemeint?

Jasmin Scholz: Ein bekannter Leitspruch zum Thema Selbstmitgefühl lautet «gehe mit dir selbst so um, wie du auch mit einem guten Freund/einer guten Freundin umgehst». Das lässt sich wunderbar auch auf das Thema Selbstfürsorge ableiten.

Alina Sigfried: Das stimmt, denn unter dem Begriff «Selbstfürsorge» werden all diejenigen Handlungen verstanden, die das eigene Wohlbefinden fördern, wobei diese Handlungen auf der psychischen oder physischen Ebene stattfinden können. Dazu gehören Handlungen, welche die Bedeutung haben, sich selbst etwas Gutes zu tun, oder aber auch der Verzicht von Dingen, die uns Stress bescheren oder sonstige negative Auswirkungen auf uns haben.

Selbstfürsorge: «Gehe mit dir selbst so um, wie du auch mit einem guten Freund/einer guten Freundin umgehst».

Warum fällt es uns so schwer, sich selbst zu mögen / sich um sich selbst zu kümmern?

Alina Siegfried: Sich um eine andere Person zu kümmern, sie zu pflegen, zu unterstützen und zu supporten, führt zu Lob und Bewunderung durch andere, aber Selbstliebe lässt einen oft  egoistisch wirken. In der Regel wird uns gelehrt, uns um andere zu kümmern, nicht aber, wie Selbstliebe/Selbstfürsorge praktiziert wird. Oft ist es für uns auch schwierig, Selbstliebe umzusetzen, weil wir dabei an zu grosse Gesten an uns selbst denken – häufig wird nicht verstanden, dass es beim Thema Selbstfürsorge zum Beispiel auch einfach darum geht, sich einen Kaffee zu machen und diesen dann bewusst zu geniessen, oder sich das Lieblingsessen zu kochen oder ein leckeres Dessert zuzubereiten; all diese kleinen Dinge werden oft als zu wenig wichtig eingestuft.

Jasmin Scholz: Ja, und oft fühlt sich der Mensch auch einfach «im Aussen» wohler – also dann, wenn er sich nicht mit sich und seinen Gefühlen auseinandersetzen muss, sondern den Fokus auf andere Personen legen darf. Und es liegt auch einfach in unserer Natur, Freundinnen und Freunden zu helfen und für sie da zu sein. Mit uns selbst gehen wir dagegen oft hart ins Gericht: Im Verliebtsein sehen wir das Leben und andere Personen durch eine rosarote Brille, im Umgang mit uns selbst werfen wir jedoch oft einen sehr strengen und kritischen Blick auf uns.

Sich Gutes tun und z.B. mal in Ruhe einen leckeren Kaffee geniessen – das ist gemäss Jamin Scholz (links) und Alina Siegfried (rechts) wichtig.

Wieso ist es aber wichtig, selbstfürsorglich zu sein?

Alina Sigfried: Es ist wichtig, um seinen eigenen Stellenwert zu erkennen, sich selbst zu schätzen und auch zu sehen, dass man es Wert ist, sich selbst etwas Gutes zu tun. Wir dürfen uns eingestehen, dass es wichtig ist, selbst an erster Stelle zu stehen, denn erst, wenn es einem selbst gut geht, kann man die geforderten Leistungen im Alltag erbringen und sich auch fürsorglich um andere kümmern. Oft geht ein stärkeres Bewusstsein für Selbstliebe auch einher mit grösserem Selbstbewusstsein. Vor allem aber hilft Selbstfürsorge auch, besser mit Stress und Anstrengung umgehen zu können und so einen Ausgleich im Alltag zu schaffen.

Jasmin Scholz: Es ist wichtig, seine eigenen Bedürfnisse zu kennen und sie vor allem nicht zu übergehen. Sich um sich selbst zu kümmern und Belastungen zu reduzieren ist nicht egoistisch. Es ist vielmehr essenziell – gerade in dieser schnelllebigen und leistungsorientierten Welt.

Kann man Selbstfürsorge trainieren? Und wenn ja, gibt es gute Übungen, die sich einfach in den Alltag integrieren lassen?

Jasmin Scholz: Für mich bedeutet selbstfürsorglich sein, den strengen Blick auf sich selbst, den ich vorhin beschrieben habe, für einen Moment abzulegen und mit einem liebevollen Blick zu ersetzen. Im Alltag hilft mir selbst beispielweise die Frage, was ich einer guten Freundin raten würde. Dadurch komme ich oft zu einem fürsorglichen Rat und versuche diesen dann auf mich selbst anzuwenden. Fürsorgliche Taten sind aber nicht immer nur mit Freude, Entspannung, Leichtigkeit und sich wohlfühlen verbunden. Es bedeutet auch, Dinge zu tun, die man gerne vermeidet. Oder auf Dinge zu verzichten, die sonst im Alltag verankert sind. Denn oft wollen wir, gepusht von der Leistungsorientiertheit, immer noch mehr. Es bedeutet also auch sich zu überwinden und Gewohnheiten zu ändern, um die psychische Gesundheit langfristig zu erhalten. Oft ist dies aber eine grosse Herausforderung und bedarf auch viel Übung.

Alina Sigfried: Auf jeden Fall kann man Selbstfürsorge lernen, aber es braucht viel Übung. Und: Selbstfürsorge leben heisst oft auch, bestimmte Verhaltensmuster zu ändern. Das heisst zum Beispiel, dass man sich bewusst Pausen einplant, die man früher nicht gemacht hätte, weil (scheinbar) viele Aufgaben anstehen. Ein Beispiel: Ich komme müde von der Arbeit nach Hause und mache zuerst einmal 15 Minuten Pause, esse ein Guezli und trinke einen heissen Kaffee – anstatt direkt den Haushalt zu machen, zu kochen und danach vollkommen erschöpft ins Bett zu fallen.
Für den Alltag gibt es viele Übungen, die aber individuell auf den Menschen angepasst werden müssen, denn jeder Mensch empfindet etwas anderes als Belohnung. Selbstfürsorge in den Alltag integrieren bedeutet also Aktivitäten für sich zu suchen, die man gerne macht, zum Beispiel: In Ruhe ein Buch lesen, ein Dessert geniessen, 15 Minuten spazieren gehen, sich bewusst einen Moment Ruhe schaffen, ein Tee/Kaffee geniessen, sich Pausen einplanen, ein Bad nehmen anstatt zeitsparend zu duschen, Sport oder Yoga machen, Achtsamkeitsübungen (wie z.B. Atemübungen) praktizieren – um hier nur eine kleine Auswahl an Möglichkeiten aufzuzeigen.

So wichtig: Sich einfach mal Zeit nehmen für Dinge, die entspannen – zum Beispiel Yoga.

Wie kommt ihr in eurem Berufsalltag mit dem Thema «Selbstfürsorge» in Berührung?

Alina Sigfried: In meinem Berufsalltag arbeite ich täglich mit Patientinnen und Patienten, die sich kaum bis gar nicht selbstfürsorgerisch um sich kümmern (können). Selbstfürsorge ist aber auf der Station und in diesem Setting, in dem ich arbeite, elementar – und auch ein Dauerthema. Oft führt das Thema bei meinen Patientinnen und Patienten zu einem Gefühl der Ohnmacht und Überforderung: Sie wissen nicht, wie sie sich um sich selbst sorgen oder etwas Gutes tun können und vergessen dann, dass bereits die einfachsten Aktivitäten,  welche sie gerne machen, der Selbstfürsorge dienen. Sie wissen oft auch nicht, dass Selbstfürsorge wichtig ist und dass es gestattet ist, diese zu leben und zu praktizieren. Anfangs müssen wir oft mit ihnen Aktivitäten suchen, welche sie mögen und diese müssen dann konkret in ihren Alltag integriert und eingeplant werden. Meine Aufgabe ist es, selbstfürsorgerische Aktivitäten zu unterstützen und vor allem die Patientinnen und Patienten zu loben, um sie darin zu bekräftigen, dass Selbstfürsorge okay ist.

Jasmin Scholz: In meiner täglichen Arbeit habe ich oft mit Menschen zu tun, die meist über eine lange Zeit hinweg wenig liebevoll mit sich selbst umgegangen sind. Die Ursachen dafür sind vielschichtig, gemeinsam ist jedoch allen Patientinnen und Patienten, dass die Auswirkungen dadurch negativ sind. Selbstfürsorge ist natürlich aber nicht nur «Patientensache»: Es ist ein Thema, das für alle Menschen wichtig und zentral ist, denn nur wer auf sich selbst Acht gibt und sich Gutes tut, kann seine Lebensqualität langfristig hoch halten. Es gilt also: Die fürsorglichen Ratschläge nicht nur den Patientinnen und Patienten weitergeben, sondern auch bei sich selbst umsetzen!

Mehr zum Thema «Selbstfürsorge» gibt es für Interessierte am SelfCare-Onlinekongress der Verlage Junfermann, Klett-Cotta und Schattauer. Der Onlinekongress findet vom 25. – 27. Januar 2022 statt und befasst sich damit, herauszufinden, wer wir sind, was uns wichtig ist und was wir wirklich brauchen, damit es uns gut geht. Die Teilnahme ist kostenlos, anmelden können sich Interessierte hier.

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