Depression – Zustand des Nicht-Viel-Fühlen-Könnens

Von PD Dr. med. Joram Ronel und Martina Leser
Lesedauer: 7 Minuten

Die Depression ist die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung, ungefähr jede zehnte Person leidet daran. Und doch ist die Erkrankung nach wie vor mit vielen Stigmata und Tabus verbunden. Im Blog sprechen wir mit unserem Chefarzt Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, PD Dr. med. Joram Ronel, über die Erkrankung und darüber, weshalb Baz Luhrmanns Song: Everybody’s Free (To Wear Sunscreen) manchmal hilfreich sein kann im Leben.

Es gibt viele verschiedene psychische Erkrankungen und sie kommen häufiger vor, als man denkt: Ungefähr jeder zweite Mensch erkrankt einmal im Leben an einer psychischen Störung. «Zum Glück sind psychische Erkrankungen in der Regel aber gut behandelbar und in vielen Fällen führt die professionelle Behandlung der Erkrankung zur Genesung», weiss PD Dr. med. Joram Ronel, Chefarzt Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Klinik Barmelweid.

Die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung ist die Depression. Obwohl man heute sehr genau über die Erkrankung Bescheid weiss, ist sie nach wie vor mit vielen Stigmata und Tabus verbunden. Betroffene seien zu sensibel, zu wenig widerstandsfähig, müssten sich nur mal zusammenreissen oder sollten einfach häufiger an sich arbeiten, so die gängigen Vorurteile. In diesem Blogbeitrag vertiefen wir uns mit Joram Ronel in das Krankheitsbild und auch darüber, weshalb Baz Luhrmanns Song: Everybody’s Free (To Wear Sunscreen) manchmal hilfreich sein kann im Leben.

Depression: Über den Zustand, nicht viel fühlen zu können
Depressionen können schleichend im Laufe eines Lebens oder einer Lebensphase entstehen, aber auch sehr schnell eintreten. Joram Ronel erklärt: «Neben biologischen oder lerntheoretischen Erklärungsmodellen ist es auch hilfreich, psychodynamische Theorien, bei denen es um unbewusste, aber (pseudo-)funktionale Motive geht, zu betrachten. Unser Organismus legt sich als vermeintliche Lösung von Problemen manchmal eine Art Schutzmechanismus zu, der zum Ziel hat, nicht zu viel zu spüren.»

Die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung ist die Depression.

Die Depression «hilft», heftige innere Konflikte, oft verbunden mit einem nicht aufzulösenden Widerspruch – wie beispielsweise grosse Wut auf den Partner und gleichzeitig Angst sich zu trennen – nicht zu sehr spüren zu müssen. «Damit wird auch klar, dass eine Depression nicht das gleiche wie Trauer oder gar Traurigkeit ist, denn Trauerreaktionen sind Gefühle, die mit sehr viel Spüren und Lebendigkeit verbunden sind – wenn man sie zulassen kann», weiss Joram Ronel.

Gefühle unterdrücken, um nicht aus dem Rahmen zu fallen
«Solche Spannungen, die eigentlich sehr wütende oder destruktive Emotionen erfordern würden, werden aus Gründen der kulturellen Normen und Angepasstheit oft lieber unterdrückt. Die Depression ist somit ein Zustand, der unbewusst ‹hilft›, emotional nicht aus dem Rahmen zu fallen, sie ist wie ein Schutzpanzer vor zu viel Gefühl», so Joram Ronel. «Deswegen ist es auch verständlich, dass sich depressive Menschen emotional und sozial zurückziehen und isolieren. Gleichzeitig aber fühlen sie sich damit dann allein gelassen. Was dann bleibt, ist das Gefühl der Gefühllosigkeit oder der Taubheit, ein unbewusstes Bedürfnis der Betroffenen, das sie aber nicht selbst steuern oder beeinflussen können», so der Psychosomatiker und Psychoanalytiker.

Joram Ronel ist es wichtig, bei der Depression eben auch auf diese psychodynamischen Aspekte einen Blick zu werfen. Er verweist dabei auf eine Aussage von Psychoanalytiker Sigmund Freud, der sich intensiv mit den «Kränkungen der Menschheit» befasst hat und darin erklärt, dass das «Ich nicht Herr im eigenen Haus ist» – dass also innere Vorgänge und Zustände ganz einfach oft nicht bewusst beeinflussbar sind.

«Weltschmerz» nicht (nur) ursächlich für Depressionen
Dies erklärt auch, weshalb das diesjährige Motto des Europäischen Tags der Depression «Depression in unsicheren Zeiten» für Joram Ronel nur bedingt stimmig ist. Er sagt: «Wir können den ‹Weltschmerz› nicht einfach generalisiert als den Auslöser für Depressionen in der heutigen Zeit sehen. Klar sind die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg oder die Klimakrise furchtbar und manches schier nicht aushaltbar – aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen sich jeher immer wieder in Krisen und sehr schwierigen Lebenssituationen befunden haben. Wir sind menschheitsgeschichtlich gesehen bei weitem nicht die einzigen, die durch unsichere Zeiten gehen / gegangen sind.»

«Wir können den ‹Weltschmerz› nicht einfach generalisiert als den Auslöser für Depressionen in der heutigen Zeit sehen.»

Dass es heute mehr Depressionsbetroffene gibt als früher, das sei schwer belegbar, sagt Joram Ronel – man «dürfe» in der heutigen Gesellschaft aber mehr darüber sprechen, es gäbe ein viel verbreiteteres Bewusstsein und auch eine grössere Offenheit und Expertise von Seiten der Versorgungssysteme. «Deshalb ist es beispielweise auch so wichtig, dass wir vor kurzem unser Projekt mit der SVA Aargau ‹Wie schwer ist dein Rucksack› umgesetzt haben», weiss Joram Ronel, «der Online-Ratgeber bietet niederschwellig Hilfe an und zeigt durch Betroffenen-Interviews auf, dass es wichtig ist, über psychische Probleme zu sprechen und sie zu enttabuisieren.»

Der Online-Ratgeber bietet niederschwellig Hilfe.

«Die Normalen sind die Kränksten und die Kranken die Gesündesten»
Manchmal ist auch ein Perspektivenwechsel hilfreich, um Tabus abzubauen», erklärt Joram Ronel, «Erich Fromm beispielsweise, ein deutscher Psychoanalytiker und Philosoph, sagte 1980 ziemlich provozierend ‹Die Normalen sind die Kränksten und die Kranken die Gesündesten› (Video siehe Link).»

«Glücklich sei der, der ein Symptom habe», so Fromm, denn durch ihre Leiden, ihren Schmerz zeigten Menschen, dass sie überfordert seien, Hilfe benötigten und nicht alleine damit gelassen werden wollten. Die «Normalen», die überhaupt keine Angst oder keine anderen negativen Gefühle mehr spürten, seien möglicherweise schon zu sehr von sich selber entfremdet, und hätten die Reibung mit den gesellschaftlichen Erwartungen an uns, ständig und überall zu funktionieren, bereits aufgegeben, so Fromm.

Joram Ronel muss schmunzeln: «In der Logik von Erich Fromm sind es die ‹Normalen›, die dann ein Bild einer leichten Schizophrenie abgeben.»

Therapie von Depressionen: Realitäten überprüfen
Wer nun tatsächlich krank ist oder nicht – Tatsache ist trotzdem, dass viele Menschen von depressiven Störungen oft massiv betroffen sind. «Dieser innere Rückzug, dieses Nicht-Mehr-Spüren, das ist häufig ein dysfunktionaler Versuch der Betroffenen, sich vor der vermeintlich viel zu schwierigen und nicht mehr aushaltbaren Realität (die sich aber oft nur in der Fantasie abspielt) zu schützen», erklärt Joram Ronel.

«In unserem Therapiekonzept in der Klinik Barmelweid gehen wir mit den Betroffenen deshalb unter anderem den Fragen nach ‹Welche Vorstellungen von einem normalen Leben habe ich? Kann ich anerkennen, dass Beziehungen in der Regel nicht nur glücklich und immer nur einfach sind? Weiss ich, dass Konflikte, Enttäuschungen, Niederlagen, Kompromisse, Ärger und Kränkungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel im Leben sind?› und eruieren, wie stark die eigene und die gesellschaftliche Strenge und Leistungsanforderung an uns selbst ausgeprägt sind», sagt Joram Ronel.

Einige Therpaien bedienen sich der Kunst, der Musik, oder auch dem Körper als Medium.

Häufig wird dabei in der Klinik Barmelweid auch in Gruppentherapien gearbeitet. Oft hilft es den Betroffenen, zu sehen, dass sie mit ihren Sorgen und Ängsten nicht alleine dastehen und es vielen anderen ähnlich geht. Dies relativiert die Einsamkeit und hilft zur Lebenswirklichkeit und Normalität wieder ein «gnädigeres» und entlastenderes Verhältnis einzunehmen. «Manchmal schafft gerade das auch die Voraussetzung, sich den Blick in die Zukunft wieder zuzutrauen. Die Psychotherapie steht bei uns deshalb im Zentrum, ob dies nun die ‹sprechende› Psychotherapie ist oder Psychotherapien, die sich der Kunst, der Musik, oder auch dem Körper als Medium bedienen. Und natürlich werden je nach Indikation auch Mal Antidepressiva verordnet, das ist klar», erklärt Joram Ronel.

Was hat es mit der Sonnencreme von Baz Luhrmann auf sich?
Jede Person geht auf ihre eigene Weise durchs Leben, reagiert unterschiedlich auf Probleme, Unsicherheiten und Schicksalsschläge und kann diese Reaktionen auch nur bedingt selbst steuern.

Ein wichtiger Song, nicht nur über Sonnencreme.

«Ich finde, Baz Luhrmann, ein australischer Autor und Regisseur, hat das auf wundervolle und für viele seiner Hörer entlastenden Weise in seiner fiktiven Abschlussrede eines Studenten an einer Highschool 1999 aufgezeigt», erklärt Joram Ronel, «der Australier sagt darin mit einem Augenzwinkern, dass eigentlich nur belegt sei, dass Sonnencreme schütze – alles andere im Leben sei nicht zu 100 Prozent verlässlich oder beeinflussbar. Und viele der Konflikte und der Widersprüchen, mit denen wir uns alle unser Leben lang herumschlagen, sind – zumindest mit Abstand betrachtet – etwas, was wir mit Humor als Normalität anerkennen müssen».

Hier geht es zum zum Song (YouTube).

Wer sich vertiefter mit dem Text auseinandersetzen möchte: Im pdf-Dokument finden Sie den Songtext auf Englisch und Deutsch.

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